Von Zermatt nach Saas Almagell via Adlerpass

Das Übernachten in der Jugendherberge war natürlich ein Fehler. Aber hinterher ist man immer schlauer. Um diese lange Etappe bei Zeiten beginnen zu können (aufs Strahlhorn wollen wir auch noch), hätten wir im Berghaus Flue übernachten sollen. Nur hätte man sich dann am Nachmittag zuvor so sehr hetzen müssen, um noch die letzte Bahn zum Blauherd zu kriegen. Aber hetzen wollte man natürlich nicht, denn dann wären einem die feinen Backwaren vom Bäcker am Bahnhofsvorplatz durch die Lappen gegangen. Also nehmen wir heute die frühstmögliche Bahnverbindung zum Stockhorn. Die Gondel spuckt uns gegen zehn Uhr an der Bergstation Stockhorn aus, immerhin auf 3532m. Höher waren wir gestern auch nicht. Allerdings müssen wir erstmal wieder 500 Höhenmeter abfahren, um den Aufstieg Richtung Adlerpass beginnen zu können. Die Sonne brennt vom strahlend blauen Himmel, der bisher schönste Tag auf der Haute Route.
Die Ansichten der Herren- und der Damenfraktion bezüglich der zu wählenden Aufstiegroute sind divergent. Die Herren wollen orographisch links vom Strahlchnubel hoch, die Dame rechts. Aus irgendeinem Grund setzt sich diesmal die Dame durch, vielleicht weil in dieser Variante schon eine vom Stockhorn aus sichtbare Spur liegt.
Von der Seilbahnstation müssen wir noch ein kurzes Stück den Grat zum Stockhorn aufsteigen. Dann machen wir uns wohlgenährt, ausgeschlafen  und schwungvoll an die Abfahrt den Findelgletscher hinunter.


Anfellen an der Seilbahnstation Stockhorn. Blick hinüber zu Rimpfischhorn und Strahlhorn mit dem Adlerpass in der Mitte. Am Übergang vom Findelgletscher zum Adlergletscher der bedeutende Strahlchnubel.


Abfahrt über den Findelgletscher.

Leider etwas zu schwungvoll. Aus reiner Bequemlichkeit verzichten wir auf ein genaues Kartenstudium (man sieht ja alles) und halten direkt auf den Strahlchnubel zu. Ein großer Fehler. Was man nämlich vom Stockhorn aus nicht sieht, sind diverse kleinere Eis- und Felsabstürze, die auf unserer geplanten Route den Gletscher durchziehen. Wir hätten viel weiter oben in einem großen Bogen nach Nordosten queren müssen, um dann ohne Hindernisse abfahren zu können. So irren wir fast zwei Stunden durch ein Labyrinth aus Gletscherspalten und kleineren Abstürzen und erreichen endlich um kurz vor eins den Fuß des Strahlchnubels. Inzwischen ist der Schnee schon matschweich und es liegen noch 800 Hm Aufstieg vor uns. Die ersten 600 davon vergehen recht rasch und reibungslos trotz der Spurarbeit (weiter oben ist die vorhandene Spur zum größten Teil zugeweht), bis sich ca. 200 m unterhalb des Passes das Gelände beginnt aufzusteilen. Zu unserer Verwunderung sind wir trotz Wochenende und schönsten Wetters allein unterwegs. Also müssen wir die Aufstiegsspur zum Pass im tiefen aufgeweichten Schnee selbst anlegen. Wir versuchen es mit Ski an den Füssen und brauchen für die ersten hundert Meter über eine Stunde. Wohl ist uns bei dem Gewühle am Nachmittag in dem sehr steilen Hang überhaupt nicht. Für die zweite Hälfte des Schlussanstiegs schnallen wir die Ski auf den Rucksack und steigen zu Fuss auf (was wir von Anfang an hätten machen sollen). Um fünf Uhr wälzen wir uns endlich über die Wächte in den Adlerpass (3789m).


Holger wälzt sich in den Adlerpass vor dramatischer Wolkenkulisse und Matterhornspitze.




Die letzten Meter zum Adlerpass.


Blick vom Adlerpass nach Südwesten.

Noch zwei Stunden Tageslicht und noch 300 Höhenmeter zum Strahlhorngipfel in relativ leichtem Gelände: Soll man oder soll man nicht? Holger und ich entscheiden uns für nicht, die beiden anderen wollen einen Versuch wagen.


Blick in die Aufstiegsroute zum Strahlhorn.

Stefan und Harald stürmen los, Holger und ich sonnen uns noch ein Weilchen im Adlerpass und geniessen die Aussicht. Dann werden die Felle abgezogen, und wir machen uns an die letzte Abfahrt dieser Skitour. Die Ostseite des Adlerpasses ist ziemlich flach und eine fette Spur weist uns den Weg über den doch recht verspalteten Gletscher.


Abfellen im Adlerpass.                                                                                       Abfahrt über den Allalingletscher mit formidablem Blick zum Weissmies.

Sobald die Sonne endgültig hinter dem Adlerpass verschwunden ist, wird es ungemütlich kalt und die Sicht merklich schlechter. Aber noch befinden wir uns ja in der ausgefahrenen Spur, also kein Problem. Leichte Nervosität kommt erst auf, als die fette Spur Richtung Hohlaubgletscher und Britanniahütte abzweigt, und keine einzige Spur über die Doppelmoräne Richtung Mattmarkstausee führt. Was nun? Gegenanstieg zur Britanniahütte und dann über die Pisten nach Saas Fee abfahren? Oder Abfahrt im Halbdunkel über die unbekannte Moränenroute ohne jegliche Spur und mit einigen steilen Abschnitten? Wir entscheiden uns für letzteres und stochern - alle 50m zum Kartenstudium anhaltend - langsam zu Tale. Obwohl wir uns so lange wie möglich am Moränenrücken halten, um nicht zu früh in einem der hundert Tälchen zu versacken, lassen sich ein paar kurze Wiederaufstiege aus Sackgassen nicht vermeiden. Zu unserer großen Erleichterung treffen wir irgendwann auf die von der Britanniahütte kommenden Abfahrtsspuren. Von da an wird die Abfahrt nochmal zum Genuß, auch wenn man die Augen schon ziemlich anstrengen muß. Nach Erreichen der Fahrstraße entlang des Mattmarkstausees ist's dann vollständig gemütlich: Man rutscht entlang der walzengeplätteten Straße und am Ende entlang der Loipe bis nach Saas Almagell, wobei sich gelegentliches Anschieben nicht ganz vermeiden lässt.

Das letzte Problem des Tages - finden einer Unterkunft in Saas Almagell - ist schnell gelöst: Im ersten Gasthaus hinter der Brücke bietet man uns gleich eine ganze Ferienwohnung an. Jetzt ist's aus mit der Bergkameradschaft, und Holger und ich bestellen die wohlbestückte Speisekarte rauf und runter, ohne auf die heldenmütigen Strahlhornaspiranten zu warten. Es ist inzwischen sieben Uhr und schon ziemlich finster. Vor neun sind die niemals da, so die Expertenmeinung. Komischerweise sitzen sie eine halbe Stunde später bei uns am Tisch, mit dem Strahlhorngipfel in der Tasche! Angeblich war unsere wohlangelegte Spur von großem Nutzen beim zügigen Durchqueren des scheissigen Moränengeländes. Auch ne Leistung ...

Der nächste Morgen kommt schneller als uns lieb ist, denn frühes Aufstehen ist angesagt, damit der Flieger am Mittag in Genf noch erreicht wird. Alle sind ziemlich platt, denn zusätzlich zu den Anstrengungen des Tages wurde noch die halbe Nacht Preisboxen im Fernsehen geglotzt - als ob's auf der Tour nicht schon genug Action gegeben hätte. Aber vielleicht will man ja auch mal sehen, wie andere leiden.

Pünktlich und wohlbehalten segeln wir mit den vorbildlichen öffentlichen Verkehrsmitteln der Schweiz über Brig nach Genf. In Martigny verlassen uns Harald und Holger, um das Auto aus Argentière zu holen und die Heimreise nach Deutschland anzutreten. Die Stimmung unter den Genfreisenden ist leicht schwermütig. Denn wer tauscht schon gern die 'schneeige Pelzboa Europas' (R. Walser) gegen den Nordosten der USA!