Nach der
halbwegs geglückten skialpinistischen Haute Route Unternehmung im
März will man im Heidelberger Kreis den Sommer nicht ohne
Viertausendertour zu Ende gehen lassen. So
einiges wird aufgeworfen: Piz Bernina über Bianco
Grat. Dom über Festi-Grat. Bietsch- und Aletschhorn in
einem Ratsch. Letztere Option, allerdings ohne Bietschhorn
erhält den Zuschlag, denn was liegt näher als der verdeckte
Namenspatron des Aletschgebietes? "Ein kalter Berg, auf den es
keinen eigentlich leichten Anstieg gibt" (Berner Alpen Führer von
Werner Munter) sollte geeignet sein für vertikal orientierte
Heißsporne, die sich schon an so bedeutenden Viertausender wie
dem Breit- und dem Bishorn versucht haben.
Aber, oh weh, das Unterfangen
steht unter keinem
guten Stern: Pik Lenin Bezwinger und Tischkletterkönig
Holger N. wird ein völlig harmlos wirkender Teppich in der
Heidelberger Wohnung der Frischvermählten zum Verhängnis;
ausgerutscht beim Kurvekratzen. Dr. Braun diagnostiziert:
Kapseldehnung. Schiene und aus der Traum mit Klettern bis zum
Jahresende. SMS Originaltext: Finger kaputt Aletsch ohne
mich. Fortan wird das Rüstzeug des tüchtigen Alpinisten
um die Disziplin "Sicheres um die Kurve Gehen auf Teppich" erweitert.
Doch
die
verbleibenden drei Aspiranten lassen sich auch von solchen Omen nicht
schrecken und an einem schönen Samstagvormittag werden in Blatten
bei Naters frohgemut die Schöße hochgebunden, der Helm auf
den Rucksack geschnallt und die Mütze aufgesetzt.
Da man über Seilbahnverdächte
längst erhaben ist, geht es mit rascher Steiggeschwindigkeit
hinauf nach Belalp, von wo der Zustieg zur Oberaletschhütte
beginnt. Zunächst über beschauliche Almpfade, dann an
einer Reißleine hinab auf die Moräne des unteren
Oberaletschgletschers steuern die Protagonisten stieren Blickes ihrem
Tagesziel entgegen. Die gute Markierung des Weges macht die
Überquerung des Gletscherchaoses einigermaßen
problemlos. Ansonsten würden plaisirgewöhnte
Geröllgänger eher ratlos in die Runde schauen.
Gut daß man
bald da ist. Noch schnell ein paar Leitern hinaufgeklettert,
einige Felsbänder gequert und schon flattern die unvermeidlichen
tibetischen Gebetsfahnen in voller Pracht vor der Hütte.
Das Abendessen schmeckt vorzüglich, großes Lob an die
Hüttenwirtin und ihren Helferinnentroß.
Für den folgenden Tag ist Akklimatisierungsprogramm
angesagt. Selten besuchte Berge auf der anderen Talseite sind im
Gespräch: das Wysshorn ist ein heißer Kandidat, WS soll der
Aufstieg sein. Die Crux offenbart sich jedoch erst beim genaueren
Studieren des Kleingedruckten. Da wo beim Zustieg zur
Oberaletschütte alles feinsäuberlich durchgenagelt ist,
finden sich auf der anderen Talseite lediglich 14 Bohrhaken in den
glattpolierten Gletscherplatten: S-. Nichts für
Plaisiralpinisten.
Daraufhin greift man auf das näherliegende Fußhorn
zurück. Eine Vormittagstour soll es werden, denn an einem
solchen Tag soll auch noch Platz für einen Mittagsschlaf
sein. Skeptisch ob der Anstiegsbeschreibung entschließt
sich Annegret zu einem Ruhetag, während die beiden übrigen
Gruppenmitglieder es gerade noch bis zum Abendessen
zurückschaffen. Mit dem Gipfel wurde es nichts, aber
dafür wurde versehentlich ein neuer, noch nicht vollständig
eingerichteter Klettersteig begangen, der einmal der neue Hüttenzustieg sein
soll. Annegret macht derweilen aufregende Photos vom Objekt der
Begierde, während das hütteneigene Babykätzchen auf dem
im
Inneren ordnungswidrig abgestellten Rucksack eine bleibende Duftmarke
hinterläßt.
Am folgenden Morgen
heißt es um zwei Uhr aufstehen und ein komplettes
Frühstücksbuffet verdauen, einschließlich Müesli
und hartgekochtem Ei. Auf diesem Abschnitt arbeiten sich die
beiden anderen Seilschaften mit dem gleichen Tagesziel einige Minuten
Vorsprung heraus, aber, wie man weiß, Kalorien und Kohlenhydrate
stärken vor allem den langen Atem.
Als nächstes
schlaftrunken die Leitern hinuntereiern; auch das geht gut. Nun
zunächst den blauen Dosen auf Stangen folgen, Annegret sieht sie
glücklicherweise auch im Dunkeln. Dann auf die
Mittelmoräne hinauf und Steinmänner suchen. Das
ist wie
Eiersuchen an Ostern, nur daß man mitten in der Nacht nicht so
weit sieht. Reflektoren weisen den Übergang vom
schuttbedeckten Gletscher auf die Südwestrippe, wo wir die beiden
anderen Seilschaften wieder treffen. Nun wirkt das Müesli
und mit frischem Schwung wird die Spitze des Feldes erobert.
Über große, feste Blöcke geht es aufwärts.
Auch hier geht die Steinmannsuche weiter, gestaltet sich aber im
großen und ganzen problemlos. Vor dem Erreichen des
Gletschers tagt es.
Also Steigeisen anziehen vor dramatischer Schrundkulisse, Seil raus und
los. Spalten hat es zur Genüge. In einem Bogen nach
rechts erreicht man den Fuß einer weiteren Felsrippe.
Diese ersteigt man
problemlos, worauf ein paar Meter Blankeis zu überqueren sind, um
wieder ein Geröllfeld zu gewinnen. Irgendwann, ab ca. 3900
m, wird es immer steiler und die Sicherungsstangen beginnen. Also
wieder Seil raus und gleichzeitig am Seil weiter nach oben.
Überschwenglicher
Eifer bringt einen Vorsteiger für kurze Zeit vom rechten Weg
ab: es wird ein erzbrüchiger Kamin zu weit links
erstiegen und an dessen Ende ein Stand eingerichtet. Da ein
Unglück selten allein kommt, zieht in diesem Moment auch noch
Nebel herein und macht vorläufig Schluß mit der vorher
passablen Fernsicht.
Doch auch
solche Umstände vermögen den Gipfelsieg nicht mehr zu
vereiteln. Raschen Schrittes geht es höher und höher,
alle Felsen sind schneefrei und kaum schwerer als der zweite
Grad. Dank der Stangen reinster Plaisir. Da nur zwei
weitere Seilschaften unterwegs sind, herrscht Staufreiheit.
Um zehn Uhr ist es
geschafft. 4195m, der Gipfel ist erreicht. Freundlicherweise
haben auch die Wolken ein Einsehen und reissen gelegentlich auf.
So bieten sich spektakuläre Blicke auf Weißhorn, Jungfrau,
Mönch und Finsteraarhorn.
Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Viertausendern steht man auf dem
Gipfel des Aletschhorns auf einem reichlich bemessenen Gipfelplateau.
Auch der Wind hat nachgelassen, so dass sich eine Vesperpause
überaus anbietet.
Die beiden anderen Seilschaften folgen der goldenen Alpinregel:
hinunter wie hinauf. Wir aber wollen über den nach Nordosten
ziehenden Grat zum Vorgipfel und weiter zum Aletschjoch gehen. Ein auch
am Gipfel angekommener, gestandener alemannischer Alpinist macht uns
Mut: "Reines Firngestapfe. Gar kein Problem". Auch im Führer liest
man lapidar etwa so: "Dann über einen scharfen Grat zum
Gipfel".
Natürlich ist dieser Grat - wie eigentlich immer - mal
wieder viel
schärfer als vermutet. Also sichern. Nach zwei "Seillängen"
über Felsen gelangt man auf nicht besonders schneidigen Firn.
Über diesen
hinab zum nächsten Felsabschnitt.
Zwischendurch
ein Blick hinab nach Nordosten zum
Oberaletschgletscher und der Hütte links
oberhalb des Gletscherzusammenflusses ...
... und geradeaus zu
einem ernsthaften Konkurrenten der Walliser
Cima di Jazzi, der Äbenifluh.
Die folgende
Felspartie bietet die im Verhältnis
anspruchsvollste Kletterei am Grat.
Dann gemütliches Stapfen in prächtiger Kulisse.
Was dann geschah: Zu viel Streß zum Fotographieren.
Zunächst ein scharfer Firngrat, der in Felsen und einer Steilwand
endet. Diese sind wir nach Norden im Firn abgestiegen. Dann ein weites
Firnplateau, auf dem sich entgegen der Landeskarte einige Spalten
tummeln. Es folgt der Übergang zum Aletschjoch. Zunächst eine
schon ziemlich aufgeweichte Firnschneide mit Wächte links
(Absturzmöglichkeit zur Hollandiahütte), dann brüchiger
Fels. Hier zieht von links die Hasslerrippe herauf, die insgesamt wenig
anziehend aussieht. Abschließend etwas Eis und schließlich
wieder Matschfirn bis zum Aletschjoch. Hier beginnt es ordentlich
zunächst zu schneinen, dann zu regnen - in Übereinstimmung
mit der Wettervorhersage.
Nun über zunächst steilere, dann immer flachere
Gletscherhänge abwärts. Zwischendurch noch mit einem Bein in
eine Spalte eingebrochen. Irgendwann auf Fels - Achtung, der Wasserfall
im Süden läßt sich nicht überqueren (ein
Teilnehmer hat dies erkundet und war kurz davor die Rega zu rufen) -
und hinunter
auf den firnbedeckten Talboden. Nun ist das Biwak so gut wie erreicht.
Die letzten Meter legen wir gemeinsam mit zwei polnischen Bergsteigern
zurück, die heute Früh vom Biwak zum Gipfel aufgebrochen
waren.
Bemerkenswert auch die Mittelaletschtoilette.
Alles, aber wirklich alles ist naß. Einzig Harald hat durch
geschickten Mülltüteneinsatz einige Bereiche innerhalb seines
Rucksacks von der Feuchtigkeit fernhalten können und erfreut sich
nun wohlig der Trockenheit der Ersatzreizwäsche. Nun werden
Speckschwarten und Almkäse ausgepackt und ein karges Abendmahl
verzehrt. Nach fast sechzehn Stunden auf den Beinen in der Tat
wohlverdient. Gegen später, bei Nacht und Nebel, stellen sich noch
zwei Berliner im Biwak ein, deren Plan es ist, am nächsten Tag das
Aletschhorn zu besteigen.
Das Einschlafen fällt trotz der Ermattung nicht leicht, man
muß erst eine ganze Weile unter den Wolldecken zittern, bis sich
in den nassen Klamotten die nötige Wärme einstellt. Der
mühsam errungene Schlaf wird gegen vier Uhr morgens unsanft durch
lautstarkes Gezänk der Berliner unterbrochen, ob man nun einen
Gipfelversuch wagen solle oder nicht: "Eih Mann, ick bin müde, ick
bin naß, ick hab nich jeschlafen ...". Draußen regnets in
Strömen, die Wolken hängen bis auf den Boden, der
Wetterbericht verheißt keine Besserung für die nächsten
Tage. Den Ausgang des Streits verschlafen wir, aber als wir um neun Uhr
vom Biwak aufbrechen, ratzen die beiden noch in ihren Kojen.
Unser Ziel heute heißt Bettmeralp, laut Führer handelt es
sich um einen 5-6 stündigen Marsch. Es regnet immer noch und die
Wolken hängen tief. Kurz nach dem Aufbruch vom Mittelaletschbiwak
gibt's ein bißchen Spaltenhopsen zum
Aufwärmen.
Um vom oberen Teil des Gletschers
zum unteren zu gelangen, muß man durch eine steile Schuttrinne,
die wir schon fürchten, seit wir im Führer von ihr gelesen
haben. Aufgrund des dauernden Regens haben sich die angekündigten
'Pfadspuren' in eine Rutschbahn aus Schlamm und Steinen verwandelt,
trotzdem ist dieser Teil ausnahmsweise nicht ganz so schlimm wie
erwartet.
Mittelaletschgletscher und
Großer
Aletschgletscher sind nicht mehr miteinander verbunden, daher
können
wir ein kurzes Stück des Weges auf erholsamen Wiesenpfaden
zurücklegen,
bevor wir eine Stunde lang über die aperen Eiswulste des
Großen
Aletschgletschers krabbeln müssen.
Nach Überwindung von weiteren 150 Höhenmetern in
Form eines steilen Grashanges erreichen wir endlich den rettenden
Wanderweg.
Ein matter Blick zurück über den Großen
Aletschgletscher ins Mittelaletschtal ...
... dann vorbei an finsteren
Gesellen am Wegesrand ...
... nix wie rein in die erste
Wirtschaft in Bettmeralp,
und weiter zu einem Nicker-
chen am Bahnhof in Mörel ...